Sektorenkopplung braucht durchgängige Kommunikation Ein Interview mit Martin Müller von Phoenix Contact über fehlende Standards und den Blick über den Horizont der Feldbuswelt hinaus.
Kurzfassung
Von den berüchtigten Feldbuskriegen über spezifische Ethernet-Protokolle hin zu einer wirklich einheitlichen Kommunikation auf Grundlage weltweiter Standards – das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Kann es mit den aktuellen Entwicklungen auf mittlere Sicht tatsächlich was werden? Mit der Kommunikation, die keine Unterschiede mehr macht, wofür sie letztlich eingesetzt wird? Ein Kabel für alle Fälle also? Martin Müller nutzt dafür den Begriff der „konvergenten Netze“. Warum diese so wichtig sind, um ganz unterschiedliche Sektoren miteinander zu verknüpfen, erklärt das Phoenix Contact-Urgestein für Feldbusse und Co. im Interview mit Thorsten Sienk.
Interview
Thorsten Sienk:
Interbus, Profibus, CANopen: Ich kann mich an Zeiten erinnern, da gab es ganze Fachzeitschriften voll mit irgendwelchen Feldbussystemen. Um den Jahrtausendwechsel steckte die Automatisierungsbranche gefühlt mehr Zeit in die Entwicklung von Kommunikationsmodulen als in eigentliche Maschinenfunktionen. Sie haben die Anfänge der Feldbusse erlebt und auch das, was später als Feldbuskrieg durch die Medien ging. Warum dieser ganze Kraftakt?
Martin Müller:
Das, was wir später als Feldbuskriege bezeichneten, ging so richtig los Anfang der 1990er-Jahre. Das Bedürfnis nach Kommunikation zwischen Steuerungen sowie den Sensoren und Aktoren im Feld resultierte im Wesentlichen aus einem handfesten Leidensdruck heraus: der Parallelverdrahtung von Sensoren mit Maschinensteuerungen und riesigen Kabelbäumen. Die Entwicklung der Feldbusse versprach enorme Einsparungen und wurde von staatlicher Seite in einem so genannten Verbundprojekt entsprechend gefördert. Bereits damals wurde Profibus spezifiziert, woran sich Phoenix Contact beteiligte und was später eng mit Siemens verknüpft war.
Thorsten Sienk:
In meiner Erinnerung stand Phoenix Contact aber für den Interbus.
Martin Müller:
Ja. Wir waren mit Interbus S kommerziell erfolgreich. S steht für Speed. Es gab noch eine Variante C, die wir als „Communication“ gemeinsam mit Intel und Digital Equipment entwickelten. Ganz am Anfang existierte auch noch der Interbus P als Profibus-Ableger. Letztlich hat sich dann für Phoenix Contact nur der Interbus S kommerziell durchgesetzt.
Thorsten Sienk:
Ohne zu sehr in die Rückschau zu gehen. Warum hat sich die Automatisierungsbranche später entschieden, die klassischen Feldbusse zu beerdigen, um stattdessen Ethernet zu verwenden?
Martin Müller:
Der Vorteil von Ethernet war vor allem die Möglichkeit, mehr unterschiedliche Informationen mit einem Kabel zu übertragen. In der Vergangenheit konnten das durchaus drei Kabel für die Kommunikation sein: klassischer Feldbus, die Kommunikation für die Sicherheitstechnik und schließlich noch Ethernet für die Vernetzung intelligenter Teilsysteme. Zwei bis drei Kabel nebeneinander zu betreiben, das wollte niemand mehr. Das war der Start für Systeme wie CC-Link, Ethercat, Powerlink, Sercos3 und auch Profinet.
Thorsten Sienk:
Aber auch hier steht hinter jedem Namen wieder ein Automatisierungshersteller, der sein System treibt. Wäre es nicht schlauer gewesen, die Erfahrung aus dem Nebeneinander der Feldbusse zu nehmen, um einen Wildwuchs an Protokollen endlich wirksam zu verhindern? Kollegen aus der Fachpresse prognostizierten seinerzeit bereits den zweiten Feldbuskrieg. Individuelle Aufrüstung statt gemeinsamer Pakt: Hat die Branche nichts gelernt?
Martin Müller:
Blicke ich auf die Zeit vor den klassischen Feldbussen zurück, dann begründet sich der Wettbewerb der unterschiedlichen Systeme seinerzeit aus der schlichten Tatsache, dass es keine standardisierte Kommunikation gab. Es gab folglich die Notwendigkeit, etwas zu entwickeln. Daraus folgt Differenzierung gegenüber den Marktbegleitern. Spätestens mit der Einführung von Echtzeit-Ethernet ist Ihre Frage begründet – wohl wissend, dass an den unterschiedlichen Kommunikationssystemen für die Unternehmen laufende Geschäfte hängen. Das gilt für die Feldbusse genauso wie für die weiterentwickelten Ethernet-Protokolle.
Wir brauchen neue Systeme und konvergente Netze für die Sektorenkopplung.
Thorsten Sienk:
Aber ist das denn noch nachhaltig? Vom Verständnis her ist der Kommunikationsweg ja nur Mittel zum Zweck, um Informationen von A nach B zu bekommen. Braucht es hier endlich allgemeingültige Standards?
Martin Müller:
Vor allem brauchen wir neue Systeme und konvergente Netze. Hierbei meine ich Technologien aus der kommerziellen Nutzung, die wir auch in der Industrie einsetzen können. Sie gilt es entsprechend zu spezifizieren.
Thorsten Sienk:
Das heißt, die Welt verschmelzen?
Martin Müller:
Genau, und zwar zu einem konvergenten Netz, in dem unterschiedliche Technologien zum Einsatz kommen. TSN zum Beispiel als verdrahtetes Ethernet für die Echtzeit. TSN oder ausgeschrieben Time Sensitive Network wurde ursprünglich entwickelt für Anwendungen im Bereich Audio- und Video-Broadcasting, kann aber auch für zeitkritische Aufgaben in industriellen Anwendungen genutzt werden, wie zum Beispiel Motion Control. Dann gibt es 5G für Applikationen, die Mobilfunk benötigen oder eben WLAN 6 und 7 im Bereich der lizenzfreien, drahtlosen Übertragungstechnik. Single Pair Ethernet, kurz SPE, eignet sich wiederum sehr gut für die Kommunikation auf den letzten Metern.
Thorsten Sienk:
Es ist also bereits alles da für die neue Einheitswelt der industriellen Kommunikation.
Martin Müller:
Genau. Wenn wir die genannten Beispiele zusammenfassen, habe ich heute schon Technologien, die auf Basis von Standards all das erfüllen können, wofür wir in der Vergangenheit industriespezifische Lösungen umgesetzt und vermarktet haben.
Thorsten Sienk:
Wo stehen wir heute?
Martin Müller:
Die Frage ist weniger, wo wir stehen, sondern wo wir stehen sollten.
Thorsten Sienk:
Wo sollten wir denn stehen?
Martin Müller:
Da, wo wir im privaten Umfeld bereits sind. Ich mache mir doch als Nutzer keine Gedanken darüber, welche Technologien mein Smartphone nutzt. Da ist Mobilfunk drin und hoffentlich auch 5G, Bluetooth und NFC zum Bezahlen. Es ist mir doch auch egal, welches Fabrikat ich benutze, wenn ich telefonieren will. Da kommuniziert doch ein Google-Phone genauso mit einem iPhone wie mit einem Android-Gerät.
Thorsten Sienk:
Ausgehend von der These, dass eine funktionierende Sektorenkopplung eine leistungsstarke, durchgängige Kommunikation benötigt: Was tut Phoenix Contact dafür?
Martin Müller:
Wir arbeiten aktiv mit in den einschlägigen Nutzer- und Standardisierungsgremien und investieren dafür nicht nur Zeit, sondern auch Geld. Wir sind vom Nutzen der Sektorenkopplung überzeugt und sind aus voller Überzeugung ein Promoter für die All Electric Society. Deshalb sind wir aktiv dabei und warten nicht darauf, bis andere etwas vorbereitet haben, was wir dann übernehmen. Das reicht soweit, dass wir nicht nur an technischen Lösungen arbeiten, sondern vor allem auch Menschen davon überzeugen, dass der Weg zu einer Welt, die ihren Energiebedarf langfristig vollständig aus regenerativer Energie bezieht, der richtige ist. Wir kommunizieren also nicht nur auf Maschinenebene, sondern nehmen auch die Menschen mit. Zumindest ist das unser langfristiges Ziel.
Wir brauchen Informationen für die Sektorenkopplung.
Thorsten Sienk:
Sie gehen dieses Jahr in den Vorruhestand. Hinter Ihnen liegen dann 36 Jahre bei Phoenix Contact und ebenso lange ein Berufsleben, das geprägt ist von industrieller Kommunikation. Ich möchte gar nicht fragen, wie das so ist mit dem fachlichen Loslassen. Aber: Was wünschen Sie sich in puncto Kommunikation innerhalb einer elektrifizierten Welt?
Martin Müller:
Ich sprach eingangs von konvergenten Netzen. Wünschen würde ich mir, dass wir schneller werden, diese aufzubauen und zu nutzen. Wenn ich zurückblicke, brauchen wir in der industriellen Kommunikation an vielen Stellen schon sehr lange. Im kommerziellen Umfeld, beispielsweise in der Telekommunikation, sind die Akteure ein schnelleres Tempo gewohnt.
Thorsten Sienk:
Kann die jüngere Generation in ihrer Rolle als „Digital Natives“ die Aufgabe übernehmen, die Bremse zu verlassen und aufs Gas zu treten?
Martin Müller:
Das kann ich mir gut vorstellen, zumal diese Generation von ihrer Prägung und Historie heraus wenig Verständnis dafür aufbringt, warum wir in der industriellen Automation so viele unterschiedliche Kommunikationssysteme betreiben. Warum wir das tun, lässt sich mit dem Festhalten an bestehenden Geschäften langfristig wenig sinnvoll erklären. Wir müssen uns mit Blick auf die globalen Klimaherausforderungen noch mehr darauf konzentrieren, dass zum Beispiel ein Durchflussmesser den Durchfluss misst und nicht, wie ich ihn angebunden bekomme. Hier zählt also die Funktion und nicht die Anbindung. Wir brauchen Informationen für die Sektorenkopplung. Der Weg ist nur das Mittel.
Thorsten Sienk:
Martin Müller, Danke für das Gespräch. Ich denke, Sie werden der Branche fehlen.
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